Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode

 

 – Der Pförtner machte sich hinter seiner Scheibe lang: «Sie wünschen?» fragte er den älteren Herrn. Der war gerade mit einem sanft näselnden «Guten Morgen!» auf das geöffnete kleine Rundfenster zugegangen, hinter dem der Pförtner freundlich und auch ein wenig gelangweilt guckte. «Nun, ich wünsche», antwortete der ältere Herr, «die Stelle als Regieassistent zu bekommen.» – «Aha!» sagte der Pförtner. Dann fragte er: «Sie heißen?» – «Gründgens.» – «Aha. Ihr Vorname?» – «Gustaf mit f.» – «Mit f, aha. Ja, dann warten Sie mal, ich schreib dann mal gleich Ihren Namen ins Besucherbuch, aber jetzt ruf ich erst mal das Vorzimmer an.» – «Danke», sagte der ältere Herr. – «Ja, hier die Pforte, Frau Ledeldeng … also, da steht hier ein Herr, der will sich als Regieassistent bewerben … nein, kein junger Mann, ein» – der Pförtner lugte durch die Scheibe – «ein eher älterer Herr … wie alt?» Der Pförtner senkte die Stimme: «Schwer zu schätzen», murmelte er in den Hörer, «alterslos, wenn Sie mich fragen … wie er aussieht? Ja, na ja, wie sieht er aus … nicht wie unsere Regieassistenten sonst, eher gepflegt.» – Der Pförtner lächelte dem älteren Herrn aufmunternd zu: «Ob Sie schon mal als Regieassistent gearbeitet haben, will das Vorzimmer wissen?» – Der ältere Herr nickte. – «Ja, er hat!» Eine Pause entstand, der Pförtner hörte auf die Telefonstimme aus dem Vorzimmer. «Ob Sie so etwas wie ein Empfehlungsschreiben mithaben, will die Frau Ledeldeng wissen.» – «Ich könnte mir eines schreiben.» – «Er könnte sich eins schreiben», gab es der Pförtner durchs Telefon weiter. – «Aha, ja. Ich verstehe.», sagte er dann, und zu dem älteren Herrn gewandt, fügte er erklärend hinzu: «Die Frau Ledeldeng fand das lustig und kommt runter.» Er legte auf. Der ältere Herr bedankte sich mit einem unruhigen Blinzeln. Der Pförtner dachte: Der ist aber aufgeregt! Und durch sein Fenster fragte er: «Lampenfieber?» Der ältere Herr nickte. – «Vielleicht überlegen Sie es sich noch mal», schlug der Pförtner vor, «Theater ist nichts für schwache Nerven!» Der ältere Herr schien es nicht gehört zu haben.
Frau Ledeldeng kam. Der Pförtner deutete hinter seiner Scheibe stumm auf den älteren Herrn. Frau Ledeldeng stellte sich vor: «Ledeldeng, Vorzimmer von Frau Intendantin Schock-Schuster. Sie sind also Herr … Herr …?» – «Gründgens, angenehm.» – «Gründgens, Gründgens … der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.» – «Das freut mich.» – «Und Sie wollen also zum Theater, wenn ich unseren Pförtner richtig verstanden habe?» – «Gewissermaßen, wieder. Ja.» – «Wieso gewissermaßen? Wollen Sie oder wollen Sie nicht?» Frau Ledeldeng schien einen Augenblick lang verwirrt zu sein. Sie nahm ihre Brille ab und putzte eines der Gläser. Dann sagte sie: «Ob Sie nun wollen oder nicht, das spielt ja eigentlich gar keine Rolle, Herr … Herr Gründgens, so war doch der Name, war er so? Nun, wir suchen händeringend einen Regieassistenten, das ist wohl wahr, und da wäre uns auch ein Berufsfremder ganz angenehm. Wissen Sie: Man profitiert auch von den ganz normalen Menschen draußen in der Welt, heißt es in einem Sprichwort, das von uns Theaterleuten gerne zitiert wird. Wenn Sie also wollen? Nämlich: Ihr Vorgänger hat sich aus dem Staub gemacht.» – «Ach, Gott, und warum?» fragte der ältere Herr. – «Ist vor der Herausforderung davongelaufen, ja, so könnte man es ausdrücken.» – «Was Sie nicht sagen», sagte der ältere Herr. – «Haben Sie eine Qualifikation?» wollte Frau Ledeldeng wissen, «Schauspielschule, oder so was in der Art?» – «So was in der Art», bestätigte der ältere Herr. – «Na, dann kommen Sie mal mit, vielleicht können wir sie ja tatsächlich gebrauchen. Wir probieren gerade den Hamlet, kennen Sie das Stück?» – Der ältere Herr nickte: «Von früher.» – «Na, das wird dann ja eine Weile her sein», sagte Frau Ledeldeng. «Sie müssten es also ziemlich bald noch einmal aufmerksam lesen!» Frau Ledeldeng ging voraus, der ältere Herr folgte ihr.
Ursula Schock-Schuster hatte «Herein!» gerufen. Frau Ledeldeng und der ältere Herr waren eingetreten. «Regieassistent», sagte Ursula Schock-Schuster, Intendantin und Oberspielleiterin an der Schock-Schuster-Bühne, «der Job verlangt von Ihnen, Herr …, Herr …?» – «Gründgens.» – «Aha, ja … dass Sie also hin und wieder auch einmal selbst in kleineren Rollen auf der Bühne stehen, trauen Sie sich das zu?» – Der ältere Herr nickte. – «Könnten Sie uns etwas vorsprechen? Eine kleine Improvisation? Vielleicht tragen sie uns ein Stückchen aus dem Telefonbuch vor?» – «Ein Stückchen Mephisto wäre mir lieber» entgegnete der ältere Herr und lächelte ein wenig eckig. – Ursula Schock-Schuster winkte ab: «Na na, das verlangt hier ja niemand. Nicht gleich die dicken Klötze. Telefonbuch – das wäre eine interessante Gestaltungsaufgabe, mein Lieber. Diese Thematik beschäftigt uns hier alle: Das Absurde hinter dem Formalen und umgekehrt, aber ich will Ihnen keinen Vortrag halten, verschieben wir das Vorsprechen auf morgen, es ist gleich elf, also kommen Sie erst mal mit auf die Probebühne!» – «Bedeutet das …?» – «Das bedeutet, wir werden es mit Ihnen versuchen, ja! Wer nicht wagt, der nicht provoziert, sagt man am Theater. Noch nie gehört? Also machen wir einen Versuch. Sie werden im Hamlet – ich sehe Sie in der Rolle schon vor mir – Sie werden den zweiten Totengräber übernehmen, trauen Sie sich das zu? Bei Shakespeare ist das zwar ein Junger, aber bei uns kann es auch ein Alter sein.
Auf der Probebühne hatte sich das Ensemble versammelt. Frau Schock-Schuster mischte sich mit dem älteren Herrn unter die Wartenden und stellte ihn als den neuen Kollegen Grundeis vor, und dass er ab sofort als Regieassistent fungiere.
«Punkt 11 Uhr, Herrschaften!» rief im gleichen Augenblick aus der Kulisse Herr Rebenschlag, der Inspizient. – «Tja, dann wollen wir uns mal alle Mann hoch auf den Hamlet stürzen!» sagte Frau Schock-Schuster in die Runde. Der ältere Herr bekam Bleistift und einen Block in die Hand gedrückt, und man wies ihm einen Stuhl links neben dem Regiesessel zu. «Alles brav protokollieren, was Sie hier aufschnappen!» schärfte ihm Frau Schock-Schuster ein. Der ältere Herr nickte. Der Inspizient rief: «Hamlet, Phase eins!» – und Frau Schock-Schuster ergänzte: «Jeder jetzt bitte seinen ganz persönlichen Rolleneinstieg, ich bin ja so gespannt!» Sie setzte sich in den Regiesessel. Dem älteren Herrn flüsterte sie hinter der vorgehaltenen Hand zu: «Das merken sie sich mal für Ihr späteres Berufsleben am Theater, mein lieber Grundeis: Ehe Sie als Regisseur die große Linie vorgeben, bekommt zu Probenbeginn jedes Ensemblemitglied die Möglichkeit, etwas anzubieten. Die Methode ist nicht neu, schon der olle Bernard Shaw hat es so gehalten, aber Sie werden es gleich erleben: Dieses Vorgehen erschließt Ihnen eine Quelle der Inspiration.»
Die versammelten Schauspielerinnen und Schauspieler boten nun etwas an. Zunächst allerdings wurde gemurmelt. «Man soll mir sagen, was ich machen soll, dann mach ich’s!» murmelte es hier. «Mir fällt nichts ein, wenn ich nicht weiß, wie der Hase läuft!» murmelte es da. Der Darsteller des Königs, der bisher im Schneidersitz auf dem Boden gehockt hatte, baute sich nun zu beachtlicher Körpergröße auf und riss sich unversehens das Hemd auf. So dass seine üppige Brustbehaarung für einen Augenblick die Szene beherrschte. Dazu sprach der Darsteller die Shakes­peareworte: «Ein unverschanztes Herz, störrisch Gemüt, zeigt blöden, ungelehrigen Verstand!» Dann fiel er aus der Rolle und erklärte: «Von hier aus würde ich die Figur anlegen, will ich mal sagen. Ich meine, der Kerl ist ein menschenverachtendes Vieh, die hemmungslose Dreistigkeit, was meist du, Usch?»
«Sehr schön, Besele!», ließ sich Ursula Schock-Schuster vernehmen. Und, dem älteren Herrn sich zuneigend, setzte sie leise hinzu: «Schreiben Sie das mal auf: Konrad Beselmann kann ein ganz wunderbarer Brutalo sein, wenn es passt!» – Der ältere Herr schrieb es auf und fragte: «Passt es denn?» – «Das ist hier die Frage», murmelte Frau Schock-Schuster. – «Ich werde darüber nachdenken, Besele, ob das in meine Konzeption passt!» ließ sie den Darsteller Beselmann wissen. «Kann sein, doch doch, könnte aber auch stören.» – Der Darsteller Beselmann knöpfe sich das Hemd zu und erwiderte: «Es war ein Angebot, Usch, man macht sich selbstverständlich seine Gedanken …» – «Sei doch nicht gleich beleidigt, Besele!» – «Ich bin nicht beleidigt, ich fühle mich halt in meiner Gestaltungslust ausgebremst. Zu Beginn der Proben schon!» Und murmelnd setzte Konrad Beselmann hinzu: «Wie soll man da sein Innerstes freibekommen?»
Und schon bot Herr Könntendehmel, dem die Rolle des Polonius zugedacht war, einen Rundgang an. Eher einen Rundtanz. Er begann, die Bühne rundum tänzelnd auszuschreiten, und dazu sprach er die Shakespeareworte: «Gib den Gedanken, die du hegst, nicht Zunge, noch einem ungebührlichen die Tat.» Und während Herr Könntendehmel die ihm zugedachten Verse innerlich weiter laufen ließ, gab er der Oberspielleiterin mit einer Zwischenbemerkung­­ zu verstehen: «So ist es doch, Usch, Polonius schickt seinen Sohn Laertes in die Fremde, ist doch so! Also ist es dem ­Vater­ eine Herzensangelegenheit, die Welt der gut gemeinten Ratschläge sozusagen, wie soll ich es sagen, auszuschreiten und, was er da entdeckt, dem Sohn, wie soll ich es sagen, ausschreitend, so, als zöge er in Gedanken selbst in die Welt hinaus, mit auf den Weg zu geben, du weißt, wie ich das meine, ist immer auf Achse, der Polonius, nur einmal steht er still, und da wird er erstochen.»
«Sehr einfühlsam, wie du das siehst, Könntele!» ereiferte sich Frau Schock-Schuster. Und den älteren Herrn ­anblinkend, fügte sie leise hinzu: «Ist Ihnen das aufgefallen? Da hat sich doch der Schauspieler mit seinem Eintauchen in die Rolle gleich zu Beginn auch ein entscheidendes Raumgefühl erarbeitet, sehen Sie das?» – Der ältere Herr wackelte mit dem Kopf. – «Nicht? Na, Sie werden es sehen lernen! Alles aufschreiben!»
Der Schauspieler Bongo Balkenhohl meldete sich zu Wort. «Also, ich bin ja hier nur Gast, bitteschön, aber gerade als Gast, denke ich, habe ich das Recht, die Frage zu stellen: Gibt hier irgendjemand auch irgendwann eine Vision vor? Einen Wurf? Ich komme vom Fernsehen, da pflegt man noch den guten alten Naturalismus, wenn‘s recht ist. Also! Ich lese bei Shakespeare: Helsingör, eine Terrasse vor dem Schloss. Und Shakespeare lässt mich wissen: Zwei Soldaten halten Wachablösung. So beginnt die ganze Geschichte. Das ist doch kinderleicht zu spielen. Machen wir das jetzt so – oder liefern wir hier nur unsere Mätzchen ab?»
Ursula Schock-Schuster machte kleine Augen. «Lieber Bongo Balkenhohl», erwiderte sie, «wir waren uns doch einig, dass wir auf der ersten Probe zunächst alle einmal auf gut Glück unsere Einfälle ausspucken, nicht wahr? So ­machen wir das nämlich an diesem Hause immer! So! Und das hat ja nun auch in Ansätzen gerade begonnen. Ich schätze es nämlich, wenn man mir aus der Spiellaune heraus etwas Arbeitsfutter anbietet.» Dem älteren Herrn sich zuwendend, sagte sie leise: «Arbeitsfutter, das Wort, schreiben Sie es auf! – Aber, wenn Sie meinen, mein lieber Balkenhohl, der große Wurf, die große Linie … ich sollte damit nun nicht länger hinterm Berg halten, Sie haben vollkommen recht, und da habe ich selbstverständlich auf Anhieb etwas in petto! Wär’ ja gelacht …!» – Eine Pause entstand. In Frau Schock-Schuster schien es zu arbeiten. – «Also», nahm die Oberspielleiterin wieder das Wort: «Sie, Bongo Balkenhohl, man kennt Sie vom Fernsehen, Sie wurden ja bei unserem Casting gerade wegen Ihrer Volkstümlichkeit für die Rolle des Hamlet ausgesucht, nicht wahr, und zwar ausschließlich Sie. Aber: Hamlet – und das ist meine Frage an Sie und an uns alle – kann das denn nicht auch jeder andere von uns sein?»
Bongo Balkenhohl stieß ein pfeifendes «Wie?» aus.
«Jeder von uns kann Hamlet sein!» verdeutlichte die Oberspielleiterin Schock-Schuster ihre Vision. «Auch Jede! Auch die Souffleuse. Auch zwei oder drei als dänische Gruppe, so habe ich es als Bild vor mir, auch das gesamte Ensemble, wenn es sein muss, gewissermaßen als global gesehene Verdichtung der Hamlet-Figur an sich. Sein oder Nichtsein – dieser Hamlet ist in uns allen. Am Leben bleiben oder untergehen – das ist doch hier die allseits gestellte Frage, die Frage der Zivilisation schlechthin und in einem jeden von uns individualisiert! Also wer, wenn ich fragen darf, lieber Bongo Balkenhohl, ist Hamlet? Nur Sie allein? Wie man es im Theater vergangener Tage vielleicht interpretiert hat? Wir alle sind es, die ganze Stadt, eine Statisterie von dreihundert Leuten stelle ich mir da vor, Schulklassen auf der Bühne, eine Videowand im Hintergrund und darauf der Hamlet in uns allen als fragende Menschenmenge, als vorüberflimmernder Gesichterstrom, so machen wir das! Sein oder Nichtsein!» Frau Schock-Schuster machte eine Pause. Und sagte verlöschend: «Entschuldigt, Kinder, dass ich mich so hineinsteigere.»
«Das ist tatsächlich eine Vision», musste Bongo Balkenhohl einräumen. – «Eben!» bestätigte Frau Schock-Schuster. «Und drum», fuhr sie fort, «beginnen wir unser Hamlet-Projekt mit dem großen Monolog: Sein oder Nichtsein! Die Szenen davor: gestrichen. Sein oder Nichtsein: Gesprochen gewissermaßen von der globalisierten Hamlet-Figur in uns allen! Frau Gieselkotte … ja, wo steckt sie denn, die Gute?» – «Am Inspizientenpult!» meldete sich Irene Gieselkotte, die Statistenführerin. – «Also, Irenchen, Sie haben mitgehört, nicht wahr, wir brauchen Hamlets. Jede Menge Hamlets. Alles, was sich da zu unserem Casting schon gemeldet hat, die Leute, rufen Sie die sofort alle wieder an, ohn’ Ansehen von Person und Begabung, die werden wir jetzt doch alle gebrauchen können!» Und zu dem älteren Herrn gewandt, der bisher schweigend das Geschehen in sich aufgenommen hatte, sagte Ursula Schock-Schuster: «Sie natürlich auch, mein lieber Grundeis, auch in Ihnen steckt ein Hamlet, und den werden Sie jetzt herauslassen müssen!» – Der ältere Herr nickte. Und sagte: «Ob der allerdings in Ihre Vision hineinpassen wird …» – «Das lassen sie mal ganz und gar meine Sorge sein», entgegnete die Oberspielleiterin, «Ihren Hamlet biegen wir uns schon zurecht!»
«Und was wird mit mir?» fragte der Schauspieler Hein Hörmel. «Ich, als der Geist von Hamlets Vater, ich wäre doch eigentlich vor dem großen Monolog dran, wenn man Shakes­peare vom Blatt spielte! Ich könnte also doch, wenn ich das mal vorschlagen darf, vorneweg zum Beispiel durch den Zuschauerraum auftreten: «Schon naht sich meine Stunde», hätte ich zu sagen, «wo ich den schweflichten, qualvollen Flammen mich übergeben muss!» Na, und dann quer durch den Zuschauerraum vielleicht mit einer brennenden Lunte hinter mir her, und ein Feuerwehrmann im Hamlet-Kostüm begleitet mich, damit nix passiert.»
«Du bist gestrichen, Hein!» erklärte Frau Schock-Schuster dem Darsteller des Geistes. «Das heißt: Du bist zunächst einmal, wie wir alle – Hamlet.» – «Der Geist gestrichen?» schimpfte Hein Hörmel, «na, wozu kriegt man denn hier Gage, wenn einem die Berufsausübung derart unmöglich gemacht wird. Das geht doch nicht! Warum lässt man mich denn nicht, das läge doch auch nahe, warum lässt man mich den Geist zum Beispiel nicht ebenso ausseinandernehmen wie euern Hamlet? Auch ein Geist ist schließlich eine mehrdeutige Angelegenheit! Der Geist sozusagen in sich gespalten und aufgeschwefelt – das wäre ja fast schon ein ganz neues Stück, oder?» – Frau Schock-Schuster beantwortete die Frage nicht, und auch sonst interessierte sich im Augenblick niemand für Hein Hörmels mehrdeutig gesehenen Geist, mit dem er sich an die Runde zu wenden versuchte, denn das Ensemble – so erklärte es die Oberspielleiterin hinter der vorgehaltenen Hand leise dem älteren Herrn, der ein wenig eingeknickt neben ihr auf seinem Stuhl saß – das Ensemble sei nunmehr «künstlerisch aufgeheizt», na, und das müsse man sich – «merken Sie sich das, wenn Sie demnächst die Regielaufbahn einschlagen wollen – das muss man sich als Spielleiter zu Nutze machen, so lange, will ich mal sagen, diese Gnade anhält.»
Die Statistenführerin Gieselkotte meldete sich von ihrer Hamlet-Suche zurück, und es strömten auch schon bald die ersten Darstellerhorden auf die Probebühne. Vielmehr: Horden waren es noch nicht, und von Strömen konnte auch noch keine Rede sein – dennoch hatte Oberspielleiterin Schock-Schuster sich vorsorglich ein Megafon bringen lassen, so dass sie jetzt immerhin drei der Herren, die noch beim Casting als Hamlet durchgefallen waren, nunmehr auf ihre neue Rolle als «global gestellte Hamlet-Frage» vorbereiten konnte. «Sie warten bitte in der Feuerwehrecke, bis man Sie chorisch eingliedert!» ordnete Ursula Schock-Schuster über Megafon an. Und dem Ensemble bedeutete sie: «Wir gehen jetzt in die heiße Phase!»
Und den älteren Herrn … mittendrin in der heißen Phase hatten ihn alle vergessen. Und er war auf seinem Stuhl irgendwann eingeschlafen.
Lange nachdem die Probe beendet war, entdeckte am späten Nachmittag der Pförtner den älteren Herrn auf der Probebühne – der saß da noch immer auf seinem Stuhl und schlief. «Ach, Gott ja, der Hamlet», sagte der Pförtner und rüttelte den älteren Herrn wach, «der bringt einen doch fast ins Grab, was, Herr Gründgens? Schon ein bisschen drin herumgestochert in der alten Schwarte?» – Der ältere Herr war aufgeschreckt. Er nickte. – «Und? Klar gekommen?» – Der ältere Herr zuckte mit den Schultern. – «Also, wenn Sie mich fragen», fuhr der Pförtner fort, «müsste man das Stück in einem Boxring aufführen.» – «Und wieso?» erkundigte sich der ältere Herr. – «Weil, eigentlich sollte man jedes Stück in einem Boxring aufführen, weil, wissen Sie, das ist bei mir nur so eine fixe Idee, aber in einem Boxring, da wüsste man doch, was auf einen zukommt: Spannung. Da gibts vom ersten Gong an eins auf die Glocke und – Spannung. Schon mal einen Boxkampf geguckt? Vor dem Kampf machen sie eine Musik wie beim Gladiatorenkampf die alten Römer, und dann hat man die beiden Heldendarsteller auch schon auf der Matte. Das heißt, einer ist immer der Held, weil man ihn leiden kann, und der andere ist der Dreckskerl, weil er unter die Gürtellinie haut. Das ist wie Theater, finden Sie nicht? Nur spannender.» – Der ältere Herr nickte ein wenig verstört. Dann merkte er an: «Das Theater ist aber doch kein Boxring.» – «Sollte es aber sein!» erwiderte der Pförtner. «Jedenfalls manchmal. Gucken Sie doch mal hin, was wir hier im Haus – ich sage das unter uns – was wir hier theatermäßig so auf die Beine stellen: Jede Menge, wie die Frau Intendantin es sieht, Kunst! Aber nie einen sauberen Aufwärtshaken, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Aber ich will Sie nicht langweilen, ich sage nur: Warum muss ein Schauspieler wie der Bongo Balkenhohl, den man doch vom Fernsehen kennt, und da ist er immer ein ganz normaler Gangster, warum muss der hier fünfmal Anlauf nehmen und mit dem Kopf gegen eine Wand laufen, nur, weil es bei dem Shakespeare heißt: «O, mein prophetisches Gemüt!» Ich hab das nachgelesen. Der Shakespeare schreibt da in Klammern nix von: Läuft gegen eine Wand. Aber hier bei uns machen sie es so! Ich stand in der Kulisse heute Morgen, fünf Minuten Pinkelpause mit kurzem Abstecher auf die Probebühne, da hab ich mal reingeschaut. Die heiße Phase, wie die Herrschaften es nennen, Sie haben es doch auch gesehen, oder? Und nicht nur der Balkenhohl rennt, die rennen alle, und dann so eine Friedhofsmusik drunter weg, dass es einem die Hose ausbeult, alle Mann hoch rennen sie irgendwie gegen eine Wand, haben Sie doch gesehen! Finden Sie das spannend?» – Der ältere Herr blinzelte unsicher. «Es muss mir entgangen sein», sagte er. – «Na ja, Sie haben da ein gesundes Reaktionsvermögen», entgegnete der Pförtner, «Sie sind eingeschlafen, kein Wunder! Übrigens: Engelhemd, wenn ich mich vorstellen darf!» – «Gründgens!» – «Das Ganze hier ist doch, ehrlich gesagt, Herr Gründgens, um gegen die Wand zu laufen, oder?» – Beide lachten. Der ältere Herr erhob sich von seinem Stuhl und verließ zusammen mit dem Pförtner die Probebühne.
Am Morgen darauf saß der ältere Herr wieder links neben dem Regiesessel auf seinem Stuhl. Das Ensemble hatte bereits drei Stunden lang Szene um Szene, wie tags zuvor von der Oberspielleiterin angelegt, aufopfernd durchgespielt. Und man hätte nun auch etwas vorzeigen können. Aber Ursula Schock-Schuster war bisher nicht erschienen. Durch Frau Ledeldeng hatte sie vor der Probe ausrichten lassen, das Ensemble möge von der Leber weg einfach mal laufen lassen, und der Regieassistent habe jeden Einfall sorgfältig zu dokumentieren. Aber dann kam sie schließlich: Ursula Schock-Schuster. Kam plötzlich auf die Bühne gerudert. Mit blinkenden Augen. Mit leicht geöffneter Bluse. Barfuß. In der Aufregung, wie sie erklärte, habe sie im Büro die Schuhe stehen lassen. Und jetzt habe sie es. Das sei die Lösung. Der global erfundene Hamlet, den sie gestern noch als Vision ausgegeben hatte, der werde jetzt gewissermaßen ins Geistige überführt. So drückte sie es aus. «Eine neue Vision, Kinder, ich bringe sie euch mit!» rief sie ihrem Ensemble zu. «Der Hamlet von gestern», fuhr sie fort, «der kann es für uns doch gar nicht sein, nicht wahr? Wer nicht wagt, der nicht provoziert, nicht wahr? Außerdem käme er uns auch viel zu teuer!» Hamlet – man müsse ihn, wenn man sich mutig in seiner Künstlerschaft befrage, müsse man ihn doch ganz und gar und ein für alle mal – Frau Schock-Schuster präzisierte ganz und gar und ein für alle mal mit: werkbereinigend! – werkbereinigend müsse man den ganz und gar konkreten Hamlet aus dem Stück doch ganz einfach herausnehmen. Eine Hamlet-Aufführung ohne Hamlet – das sei die eigentliche Provokation. Sein – müsse gar nicht erst sein! Nichtsein sei das Sein an sich! «Und so fangen wir’s jetzt auch an, Kinder! Alles wieder zurück auf Anfang! Was sagt ihr?»
Niemand sagte etwas. Aber man hörte Stimmen. Innere Stimmen. Grollende Stimmen. Stimmen der Ratlosigkeit. Es war, als würde sich da gerade ein ganzes Ensemble gegen einen Herrn Shakespeare erheben wollen, der allen das Leben so schwer machte. – Jemand schlug vor: «Warum fangen wir nicht mit der Totengräber-Szene an! Das hat doch noch keiner gemacht. Auch in Berlin nicht. Die Totengräber­ treten auf, und das Publikum spürt von Beginn an den heraufziehenden Untergang. So hat doch noch keiner ­provoziert!» – «Gar nicht schlecht», kommentierte Hein Hörmel, «ich könnte dann als Geist hinterhertrotten, und im Publikum würde man sich fragen: Wohin steuert der Hörmel den Klassiker?» – «Alles Quatsch, nämlich so fängt es an: Ich, bei den Totengräbern eingehängt!» verlangte Ann Schegedi, die Darstellerin der Ophelia. «O welch ein edler Geist ist hier zerstört!, sag ich, und schöner, und das wird man doch zugeben müssen, schöner kann man den Klassiker doch gar nicht beginnen – mit seinem Ende, das sich dem Anfang vorausblendet, ich sag das einfach mal so.» – «Man könnte auch», posaunte Evelin Tammerlamm, die Darstellerin der Königin, über alle hinweg, «man könnte auch die Männerrollen von Frauen spielen lassen, und die Frauenrollen kommen über Lautsprecher!» – «Oder die Männerrollen werden gesungen!», schlug der Inspizient vor, der nebenberuflich an einer Buffo-Karriere arbeitete. – «Oder sämtliche Rollen werden als Zitate-Tafeln herumgetragen!» schrie die Souffleuse, «dann hätten wir hier weniger Hänger!»
«Ruhe!» donnerte Ursula Schock-Schuster. Aber Ruhe gab jetzt niemand mehr. Alle redeten durcheinander. Alle liefen durcheinander. Alle hatten jetzt Einfälle. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Ein Stuhl flog durch die Luft. Bongo Balkenhohl versetzte Konrad Beselmann eine Ohrfeige, denn der hatte sich gerade auf einen Monolog gestürzt, den Balkenhohl für sich beanspruchte: «Oh, schmölze doch dies allzu feste Fleisch!» hatte Beselmann gerufen.
Dann fiel ein Schuss. Und Bongo Balkenhohl sagte in die jäh eintretende Stille: «Der Rest ist Schweigen.»
Der ältere Herr hatte geschossen. Er war aufgestanden. «Entschuldigen Sie, verehrte Damen, verehrte Herren», sagte er mit sanft näselnder Stimme, «es ist nur eine Schreckschusspistole, ich trage sie immer bei mir. Aus Angst vor Niederschlägen. Ich möchte Ihnen einen Hinweis geben, wenn ich darf.» Und weil ihm das niemand verwehren wollte, fuhr er fort: «Herr Engelhemd, der Pförtner, er und ich, wir haben uns über das Theater unterhalten, und Herr Engelhemd sprach davon, ein Stück, wie Hamlet, müsse man in einem Boxring aufführen … das ist natürlich Unfug … aber, was ich damit sagen möchte … als Regieassistent steht es mir natürlich nicht zu, etwas einzufordern … Ihre Einfälle sind hochinteressant, keine Frage, alle eine unerhörte Provokation! Dennoch, wie soll ich es sagen: Sie kommen­ nicht bei mir an.»
Schweigen. Niemand sagte ein Wort … dann hatte Bongo Balkenhohl eine Erleuchtung. Und mit ihm Ursula Schock-Schuster im gleichen Augenblick. «Boxring!», trompetete Balkenhohl, «darauf muss man doch erst einmal kommen!» – «Boxring!», ereiferte sich die Oberspielleiterin, «daran habe ich längst selber schon gedacht! Herr Rebenschlag, Tempo, Tempo!», rief Ursula Schock-Schuster – und der Inspizient Rebenschlag kam auch sofort auf die Bühne. «Herr Rebenschlag, Sie informieren bitte den Bühnenbildner. Wir brauchen einen Boxring. Sonst nichts. Einen Boxring. Bühnenmitte. Um einen Meter vom Bühnenboden erhöht.» – «Zwei Meter!» rief Bongo Balkenhohl dazwischen. – «Ein Meter fünfzig wären ideal», entschied die Oberspielleiterin. «In diesem Boxring agiert Hamlet. Nur er. Er allein. Schattenboxend. Er allein im grell ausgeleuchteten Schattenkampf gegen die Bedrohungen des Jahrhunderts. Sein oder Nichtsein! Das Jahrhundert rennt gegen den Boxring an. Die Widersacher verhaken sich in den Seilen. Teilen Schläge nach oben hin aus. Hamlet kann zurückschlagen. Schattenaktion. Spannung.» Die Oberspielleierin schnappte nach Luft. Bongo Balkenhohl spielte das Bild weiter aus: «Der König hangelt sich an den Seilen hoch, gelangt in den Ring, Hamlet stürzt sich mit dem Degen auf ihn, Pantomime, der König, in die Seile zurückgedrängt, muss weichen, Ophelia kommt in den Ring, vom Ringrichter huckepack genommen, Hamlet wirft ihr seinen Schatten wie auffliegende Wäsche entgegen, Erschütterung beim Publikum …» – «Aufschreiben, Grundeis!» rief die Oberspielleiterin, «schreiben Sie das alles auf! Wo stecken Sie denn?»
Der ältere Herr hatte sich auf Zehenspitzen aus dem Staub gemacht. Beim Pförtner kam er gerade vorbei, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und bat darum, Frau Schock-Schuster einen Gruß auszurichten. – «Keine Lust mehr, Herr Gründgens?» fragte der Pförtner durch das kleine runde Fenster. Der ältere Herr zögerte mit der Antwort, dann sagte er: «Ach, wissen sie, Herr Engelhemd, die Verantwortlichen dort oben», der ältere Herr deutete mit dem Zeigefinger Richtung Ewigkeit, «sie haben mich auf mein drängendes Bitten heruntergelassen, ich wollte noch einmal von vorn anfangen beim Theater. Aber heute musste ich begreifen: Ich bin dem Theater nicht mehr gewachsen.» Er ging.

Am folgenden Tag berichteten die Zeitungen über einen Vorfall, der sich in Hamburg auf dem Ohlsdorfer Friedhof zugetragen haben sollte: Ein gepflegt gekleideter älterer Herr sei in ein Grab gestiegen, schrieben die Zeitungen, und man müsse davon ausgehen, dass er auf Nimmerwiedersehen darin verschwunden sei. Nämlich: Man habe nachgesehen.