Himmel oder Hölle?


 – Irgendwo läutete es. Waren es Glocken, die er da gerade gehört hatte? Als Joe Fliederstein am Morgen seines siebzigsten Geburtstages mit schwerem Kopf erwachte, fand er sich nicht, wie erwartet, auf einer Parkbank wieder: Im Augenblick des Aufwachens war er – er hatte sich selbst dabei zusehen können – singend, und von mächtig tönendem Glockengeläut begleitet, durch eine Tür getreten. Und er wusste es sofort: Sein Erdenleben war gerade zu Ende gegangen, und er war im Wartezimmer zum Jüngsten Gericht angekommen. 

In diesem Wartezimmer sah es aus wie in einem irdischen Wartezimmer. Rundum sah Joe Fliederstein Leute, die auf Stühlen hockten. Die ihn aus den Augenwinkeln anstarrten. Er erinnerte sich an das Wartezimmer eines irdischen Arbeitsamtes, das er zu Lebzeiten einige Male hatte aufsuchen müssen: Dort war er auch so angestarrt worden. Joe ging auf einen der Wartenden zu und fragte ihn: «Wird man hier aufgerufen?» Der Wartende blieb stumm, rührte sich nicht, bekam dann von irgendwoher einen Zettel zugesteckt, den er an Joe Fliederstein weiterreichte. «Anweisung», las Joe von dem Zettel ab, «wie du dich vorbereitest auf den Gerichtstag.» – Gerichtstag? – Und weiter: «So sollst du dich, der du nun durch die Tür getreten bist, also erinnern an die Jahre deines Erdendaseins und über sie richten», las Joe, «wirst ein Urteil sprechen über dich selbst und entscheiden, wo man dich in der Ewigkeit unterbringen soll.»

Wirst ein Urteil sprechen über dich selbst? Warum denn ich? Joe Fliederstein wollte den Zettel zurückgeben. Wollte ihn loswerden. Sollten doch erst einmal die anderen sich vorbereiten, die … die saßen doch schon länger hier herum! Wieso ausgerechnet er? Was war denn schon dran an seinem «Erdendasein», wie es auf dem Zettel hieß?

Joe griff nach der Cognacflasche. Ein erprobter Handgriff. Aber jetzt war es ein Handgriff ins Leere. … Er hatte die Flasche unter der Parkbank abgestellt … und wo war die Flasche jetzt? Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstages … Joe Fliederstein sieht sich in Gedanken auf die Bank zusteuern, er setzt sich, er entkorkt die Flasche mit geübtem Daumendruck … Herr im Himmel, na und? Er hatte sich einen teuren Cognac genehmigt, versehentliches Mitbringsel aus der Feinkostecke des Supermarktes … wurde ihm das hier oben jetzt als Kapitalverbrechen ausgelegt? Wo war die Flasche? … Bis auf einen letzten Schluck hatte er sie geleert, daran glaubte Joe sich zu erinnern. Ein letzter Schluck sollte reserviert bleiben für den neuen jungen Morgen, auf dass es ein gesegneter junger Morgen werde, so hatte er es sich ausgemalt. Er würde erwartungsvoll die Augen öffnen, in die Frühsonne blinzeln und diesen letzten Schluck langsam die Kehle hinunterrinnen lassen … oder auch teilen. Mit ihr. Mit der Rothaarigen. Die sich … war es gestern Abend? … zu ihm auf die Bank gesetzt hatte, so, als seien sie alte Bekannte … mit ihr zusammen hätte er auf ein neues Leben anstoßen können, ein letzter Schluck und dann gesegnete Enthaltsamkeit, das war der Plan! An seinem siebzigsten Geburtstag noch einmal von vorn anfangen und in ein Leben starten, das man guten Gewissens vorzeigen konnte, am Ende auch hier oben, wo war die Flasche? … Oder sollte ihm der letzte Schluck womöglich nicht vergönnt sein? Empörung kam in Joe auf. Wurde er um seine letzte Chance gebracht, geradezurücken, was er zu Lebzeiten verbockt hatte? 

Joe blickte sich um. Hörte man ihm hier überhaupt zu? Keiner der Wartenden schien bereit zu sein, auf seine Fragen eine Antwort zu geben. Aha! So also wurde das hier oben geregelt! In Joe Fliederstein brodelte es. Auf brutale Art und Weise hatte man ihn in die Ewigkeit verfrachtet, so sah es doch jetzt aus, und hier sollte er nun entscheiden – er selbst, was für eine Hinterhältigkeit! – ob er sich den Himmel verdient hatte. Was, wenn er herausfände, dass die Hölle für ihn in Frage kommen könnte? Und dass er sich am Ende selbst dort einquartieren musste? Na, das wär‘ ja noch schöner! Außerdem: Er war doch noch gar nicht an der Reihe! Als Joe aber einen Blick auf die Wartenden warf, sah er, dass die sich zusammengerottet hatten. Dass sie jetzt wie die Zuschauer in einem Theater in einem Halbkreis zusammengepfercht vor ihm auf ihren Stühlen hockten. Vor ihm, dem Angeklagten, der unversehens – Joe Fliederstein nahm es mit Erschrecken wahr – im Scheinwerferlicht des Gerichtssaales stand. Zu dem sie nun aufschauten, als gierten sie danach, ihn in der Rolle des Richters über sich selbst zu erleben. Wo war die Flasche?

Joe Fliederstein wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Für einen Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen. Er stand jetzt also vor Gericht! Und die Zuschauer im Saal guckten ihn geradezu herausfordernd an! Als wollten sie ihm signalisieren: Hallo, Sie da, Angeklagter, kommen Sie umgehend zur Sache! Wie hat es sich da unten denn nun abgespielt?

«Herrschaften, Geduld!» Joe versuchte abzuwiegeln. «Ich bin ja schon dabei, aber reden Sie mal aus dem Stand über Ihr … Ihr Erdendasein, na, und fragen Sie sich, ob Sie erdenwärts auch alles richtig gemacht haben, das ist doch gar nicht so einfach … vielleicht sagt mir mal jemand, was aus meinem Cognac geworden ist! Wo ist die Flasche? … Natürlich erhebe ich Anspruch auf ein himmlisches Langzeiteckchen, warum denn auch nicht! So ein Eckchen würde mir schon genügen. Aber steht es mir auch zu? Das ist doch, wenn ich den Zettel richtig deute, hier die Frage. Wer bin ich denn, dass ich es mir auch verdient hätte?» Joe Fliederstein blickte hilfesuchend in die Runde, als könne er von dort auf eine Antwort hoffen. Die Zuschauer blieben stumm.

Joe knöpfte sich das Hemd auf. Luft! Tiefes Einatmen durch die Nase … das Hemd müsste mal wieder gewaschen werden, dachte er. 

«Unsere Familie, die Fliedersteins …» – Joe war nun entschlossen, einfach draufloszureden, er hatte keine Vorstellung davon, wie er vor diesem Jüngsten Gericht bestehen sollte, ob man sich für sein Erdendasein überhaupt interessierte, ob er tatsächlich selbst darüber ein Urteil sprechen durfte … oder ob er schon mittendrin steckte im Höllenfeuer – «unsere Familie hat immer ein sehr eingeschränktes Erdendasein geführt», bekannte Joe. «Wir haben uns nie, wie soll ich es ausdrücken, auf Wirklichkeiten eingelassen. Das lag nicht in unserer Natur, weiß der Teufel, warum – oh, ich bitte das Gericht um Entschuldigung!» Joe Fliederstein – als habe ihn da gerade der Hammer des Gerichtsvorsitzenden wegen unzulässiger Wortwahl zur Ordnung gerufen – war zusammengezuckt. «Ich möchte es einmal so sagen: Immer haben wir Fliedersteins uns vor den Wirklichkeiten gedrückt. Waren im Gedanklichen unterwegs. Was ich damit andeuten möchte: Die wirkliche Welt – wir Fliedersteins haben uns da herausgehalten. In den erfundenen Welten haben wir geglänzt. Und insofern habe auch ich nur ein, wie soll ich es sagen, ein schattenhaft geführtes Erdendasein anzubieten. Es gibt da nichts wirklich Greifbares, das man hier verhandeln könnte. Also … also müsste ich doch … ich meine … für eine Einquartierung im Himmel müsste das doch reichen … ich meine, damit müsste ich doch mindestens für den Himmel vorgemerkt sein, oder? Ich habe ja nichts … wie soll ich es zusammenfassen: Ich habe ja nichts angestellt!»

Joe Fliederstein hörte auf einmal Gesang. Sie sangen. Die Engel, vermutete er. Oder war es nur der eine Engel? Der … der rothaarige? Irgendwo hinter den Wänden des Gerichtssaales sangen sie La Paloma, Joe Fliedersteins Lieblingslied. «Auf, Matrosen, ohé», sangen sie, «einmal muss es vorbei sein, einmal holt uns die See und das Meer gibt keinen von uns zurück …» – Aber wieso denn die See? Er war doch nicht ertrunken! Er war durch eine Tür getreten! Und plötzlich erinnerte Joe sich: Beim Hindurchgehen war er selbst es gewesen, der La Paloma gesungen hatte. Und jetzt sangen es die Engel. Wo war die Flasche?

«Nun, als Seemann …» – Joe versuchte es nach einem Augenblick des Nachsinnens zu erklären – «in meinem Erdendasein bin ich hin und wieder auch in der Rolle des Seemanns unterwegs gewesen, ja, in der Tat. Aber eben nur gedanklich. Und, ja, ich wäre auch gern einer gewesen, ein wirklicher Seemann, sogar leidenschaftlich gern. In meiner Kindheit, zum Beispiel, ich weiß es noch genau. Aber schließlich musste ich mich doch für einen praktikableren Beruf entscheiden. Der Familientradition folgend. Mein Großvater Bartholomä Fliederstein, 19. Jahrhundert, vielleicht erinnern Sie sich, Bartholomä hat in der Nachfolge Schillers gearbeitet: als Balladendichter. Mein Vater versuchte sein Glück als Sonette schreibender Studienrat. Na, und ich selbst darf mich zur Spezies der sogenannten Volksdichter zählen. Ich habe nach Postkartenmotiven den Schwarzwald besungen und die lippische Heide, in anrührenden Versen, doch, doch. Man findet mich auf Kalendern gedruckt und manchmal in den Reiseheften der Deutschen Bahn. Und, wenn ich das in aller Bescheidenheit hinzufügen darf: Meine Hymnen an den Württemberger Trollinger wurden von schönen starken Württembergerinnen immer gerne vorgetragen. So war ich der Mittelpunkt der Volksfeste. Und, wie man sich vorstellen kann, entfaltete sich eine angeborene Trinkfestigkeit dabei aufs Erfreulichste.» Joe hielt inne: Wo war die Flasche? – «Kurzum», fuhr er fort, «einen Beruf jenseits aller handfesten Wirklichkeiten habe ich ausgeübt, wenn ich es einmal so umreißen darf. Mit geringem Einkommen. Vom Arbeitsamt manchmal gefördert und manchmal auch nicht. Mein Leben spielte sich hauptsächlich an meinem Schreibtisch ab oder auf den Parkbänken in der Umgebung. Von dort aus war ich natürlich auch auf den Meeren der Welt unterwegs, doch, doch, aber eben nur schattenhaft, mit einer Pulle Rotwein als Gruß an die Heimat, um es einmal salopp zu sagen. Als literarisch herumvagabundierender Seemannsentwurf, gewissermaßen … mache ich mich verständlich?»

Im Gerichtssaal wurde es auf einmal unruhig. Joe Fliederstein fragte sich, ob er gerade etwas Falsches gesagt hatte. Etwas, welches das Bild, das er von sich zu zeichnen versucht hatte, ins Zwielicht gerückt haben konnte. Die Zuschauer schienen sich plötzlich in eine heftige Diskussion verstrickt zu haben. Die geflüstert geführt wurde. Joe hörte einen der Zuschauer flüstern: «Ich habe einen Anspruch darauf!» Und ein anderer hielt flüsternd dagegen: «Wenn überhaupt, dann doch erst einmal ich!» – «Wenn Sie erlauben», rief Joe den Flüsternden zu … «Du hältst jetzt erst einmal die Klappe!» bellte ein Flüsterer zurück. Dann löste er sich aus der Runde und kam auf Joe Fliederstein zu. Langsam. Und Joe erschrak. Erschrak bis ins Mark. Dieser Flüsterer war … war er selbst! Er, Joe Fliederstein, den er da herankommen sah. Er erkannte sich sofort.

«Ich sehe es dir an, Joe», sagte der Herankommende, «du ahnst, wer ich bin.» – «Der … der …» – «Ganz recht! Der Seemann, der du hättest sein können, wenn du mich damals herausgelassen hättest. Damals, als ich noch ganz ungeniert in deinen Gedanken herumspazieren durfte.» – «Ach, Gott, ja …» Joe Fliederstein schluckte, schluckte an einem Kloß, den er nicht hinunterbekam. – «Aber dummerweise», fuhr der Seemann fort, «dummerweise bin ich damals nicht zum Einsatz gekommen. Du hast mich ausgebremst, Joe. Und warum?» – Joe nickte dem Seemann hilflos lächelnd zu, als wollte er sagen: Selbstverständlich tut mir das immer noch leid! – «Du hast mich verkümmern lassen, Joe Fliederstein, ist es nicht so? Nichts als ein läppisches Fantasiegebilde habe ich mit dir zusammen sein dürfen! Das du irgendwann als flüchtige Erinnerung entsorgt hast! Stimmt doch, oder? Siehst du, und das habe ich als ungerecht empfunden. Damals. Um nicht zu sagen: als widernatürlich. Bis auf den heutigen Tag! Und deshalb, Joe, fordere ich von dir Wiedergutmachung!»

«Und ich auch!» wurde gerufen. Joe Fliederstein zuckte zusammen. Sah unvermittelt einen Anderen auf sich zukommen. Einen mit einer dicken gelben Nase. Auch ihn erkannte er sofort. Wieder war er es selbst. Er selbst in papageienhafter Aufmachung. – «Du erinnerst dich an mich?» forschte der Gelbe. «Hattest den Zirkusclown in dir entdeckt. Damals. Wolltest die Welt auf den Kopf stellen, Joe, weißt du noch? Hattest mich fix und fertig in deinem Schädel und gedachtest mich am Tag des alljährlichen Familientreffens herauszulassen, erinnerst du dich? Die Familie erschrecken! In Verrücktheiten schwelgen! Damals warst du so etwas wie ein Provokateur im Anfangsstadium, Joe! Und Provokateur auf Lebenszeit wolltest du später einmal werden – so jedenfalls hattest du es geplant. Und ich war Teil dieses Planes. Aber dann hast du dich gedrückt! Leider! Ich endete irgendwann in der Ablage. Tja. Darunter habe ich natürlich gelitten. Bis heute. Und deshalb sage ich es dir unverhohlen ins Gesicht: Du solltest mich endlich herauslassen, Joe, du bist es mir schuldig!»

«Und mir erst recht!» – Diese Stimme! – Joe Fliederstein lief jäh ein Schauer über den Rücken. Diese einschmeichelnde Stimme! Er erkannte sie sofort. Seine Stimme war es. Sie kam aus einer anderen Zeit. Einer wunderbaren Zeit. Er hatte diese Stimme nie vergessen können. Sie klang noch immer in ihm nach! Und jetzt kam sie auf ihn zu! Wo war die Flasche? – «Du weißt, Joe, wer du hättest sein können? Damals, Joe? Zusammen mit mir? Du erinnerst dich an Rosa Helene?» – Joe erinnerte sich sofort. – «Denkst du noch an das Muttermal auf ihrer linken Pobacke, Joe? Das wir auf der Liegewiese im Stadtpark entdeckt hatten? Du und ich? Weißt du noch, was wir ihr damals versprochen haben? Du und ich! Der Liebe unseres Lebens, wie wir sie genannt haben? Wir hätten den Himmel für sie erobern können, Joe, wenn du mich damals von der Leine gelassen hättest. Wenn du dich aus deiner Krämerseele herausgeschält hättest, Joe, damals in jener Nacht, die auf den Tag im Stadtpark gefolgt war. Denkst du noch manchmal an jene Nacht mit Mond? Rosa Helene hatte uns hinters Haus gelockt, sie küsste dich, weil du dich zu einem Kuss nicht entschließen konntest. Sie küsste dich ein zweites Mal, sogar herausfordernder – da aber hat deine Krämerseele unvermittelt Alarm geschlagen, Joe Fliederstein. Du hast Rosa Helene das Abenteuer verweigert, auf das sie gehofft hatte. Hast gekniffen. Und mir, dem Eroberer in dir, hast du einen Tritt gegeben, Joe, wolltest mich und Rosa Helene nicht in dein Leben hineinlassen. Eine Frechheit, Joe, findest du nicht? Eine Frechheit dir selbst gegenüber, Joe! Und Rosa Helene gegenüber, nicht wahr? Hast sie seit jener Nacht mit Mond niemals wiedergesehen? Warum wohl? Sie hat dein Kneifen damals als Demütigung empfunden. Ist dir davongelaufen. Eine Demütigung, die du endlich wiedergutmachen solltest, Joe. Das bist du ihr schuldig!»

«Wiedergutmachen solltest!» klang es jetzt wie ein Echo von überallher. «Das bist du uns schuldig!» wurde gerufen. Joe zitterte. Wo war die Flasche?

«Du kannst selbstverständlich hier oben bleiben, Joe», war im gleichen Augenblick zu hören, «du kannst bleiben und dir hier oben ein himmlisches Langzeiteckchen einrichten, Joe, denn du hast dir den Himmel verdient! Weiß Gott, ja! Dein Erdendasein, wie du es hier vorgetragen hast, taugt nämlich nicht für die Hölle! Zu langweilig!»

Joe Fliederstein überlief es heiß. Wider seinen Willen rieb er sich die Hände. Wie war das? Er durfte bleiben? Durfte sich im Himmel einquartieren? Niemand würde ihn daran hindern? Er hatte sich den Himmel verdient – war ihm das gerade offenbart worden? 

Dann aber … dann sah er sie! Sah sie plötzlich alle auf sich zukommen. Der Gerichtssaal war auf einmal voll von ihnen. Und es wurden immer mehr. Und alle mit seinem Gesicht. Alle kamen jetzt auf ihn zu. Bedrängten ihn. Stupsten ihn an. Schoben ihn vor sich her. Und sie riefen: «Es ist dein siebzigster Geburtstag, Joe! Ein Weilchen könntest du da unten noch herumfuhrwerken, meinst du nicht auch? Könntest einen von uns mit nach unten nehmen, dafür würde deine Zeit noch reichen!» Alle riefen es jetzt. Alle mit seiner Stimme: «Nimm mich mit, Joe!» 

Und eine Glocke läutete. Das Jenseits ließ wieder die Glocken läuten. Joe Fliederstein hätte gern Halleluja gerufen: Glockengeläut zu seinem Einzug in die Ewigkeit, wie feierlich! – «Ich will aber nicht!» rief Joe Fliederstein. «Ich will nicht mehr nach unten! Ich habe mir den Himmel verdient, verdammtnochmal!» 

Und sie schubsten ihn weiter vor sich her und riefen: «Mit einem von uns solltest du es noch einmal versuchen, Joe! Egal mit welchem! Such dir einen aus! Den Zirkusclown, wenn du willst! Den Stadtpark-Casanova! Such dir einen aus! Mit ihm zusammen wirst du unten einen letzten Anlauf nehmen! So ist es beschlossen! Gerichtsbeschluss! Dein letzter Anlauf! Damit du dich demnächst mit einem verhandelbaren Schicksal hier oben sehen lassen kannst! Die Urteilsverkündung ist vertagt!» Und Joe Fliederstein fiel. Und fiel.

Er schwebte aus dem Gerichtssaal hinaus und fiel. 

Hörte die Stimmen, die ihm hinterhertönten, die ihn einzuholen drohten, und er fiel. 

«Versuch es mit mir!» rief eine Stimme. «Oder mit mir!» eine andere. 

Und Joe fiel. Tiefer und tiefer. 

«Dein Leben wirst du noch eine Weile aushalten müssen, Joe», wurde ihm hinterhergerufen. 

Und wieder läutete es. 

Und Joe fiel und fiel und schreckte auf, rieb sich die Augen und sah sich um. Er saß auf der Parkbank. Und wieder läutete es. Eine Kuh stand vor ihm. Die Kuh hatte ein Bündel Blumen im Maul. Eine Frau stand neben der Kuh. Die Rothaarige. Sie hielt die Kuh mit beiden Händen an einer Leine. Die Kuh schüttelte sich, und die Glocke um ihren Hals läutete. Die Frau lächelte. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Joe», sagte sie. – Joe Fliederstein erschrak. Der Schrecken durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag. Er wusste auf einmal, wer sie war. «Sie sind …», Joe hörte den Klang seiner Stimme, «Sie sind? … Du bist es? … Woher kommst du?»

Die Frau lächelte.

«Setz dich doch zu mir, Rosa Helene, alles wird gut, wir starten das Leben noch einmal von vorn, so ist es im Himmel beschlossen worden, wir beide können die ganze Welt erobern!»

Die Frau lächelte. 

Und lächelnd band sie die Kuh an der Parkbank fest. Setzte sich neben Joe Fliederstein. Dann hielt sie eine Cognacflasche hoch und sagte: «Den letzten Schluck aus deiner Flasche, Joe, hab ich schon mal auf unsere Gesundheit gekippt! Aber, wie du siehst: Für Nachschub aus dem Supermarkt ist gesorgt!»


 

Frühaufsteher? – Nein, Langschläfer.


 – War es Zufall, dass an einem Dienstag im August eine Frau und ein Mann, die nichts von einander wussten, im gleichen Augenblick beschlossen, die Nachmittagsstunden im Schwimmbad von Springfelde zu verbringen, um später dann, ohne Aufsehen, aus dem Leben zu scheiden?


Carolin Honig saß im schwarzen Morgenmantel vor ihrem Mahagoni-Sekretär. Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihr: Du hast noch Zeit. Leise sagte sie zu sich selbst: «Das also war mein Leben?» Und sie suchte nach einem Anfang für ihren Abschiedsbrief. Wer würde ihn lesen? Wer schon? Sie warf einen Blick seitwärts zum geöffneten Fenster hinaus, beobachtete eine Amsel, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Holzrahmen einer Plakatwand hockte und zu ihr herüberäugte – den zuckenden Schwanz hochgestellt, als wollte sie signalisieren: He, du da am Feine-Leute-Möbel, mach keine Dummheiten! 

Warmer Morgenwind wehte Carolin ins Gesicht. Sie kramte einen Bogen Papier aus dem Sekretär. Seufzte. Schaute wieder zur Plakatwand hinüber: Die Amsel war weggeflogen. Stattdessen streifte Carolins Blick jetzt eine pausbackige Schöne, die auf einem Plakat in verschnörkelter Sprechblasenschrift den leckeren Landkäse für den lebensfrohen Stadtesser anpries.

Gegen alle Gewohnheit war Carolin Honig an diesem Freitag um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf geschreckt. Das Gebrumm einer Mücke hatte sie auffahren lassen. Und der Blick zum Wecker erschreckte sie fast zu Tode: sechs Uhr morgens! Was bedeutete das? War sie noch sie selbst? War das jetzt eine Persönlichkeitsspaltung? Mit einem lautlosen Schrei sah sie sich ins Kopfkissen zurücksinken und konnte sich nur mühsam aufrecht halten. Sechs Uhr morgens! Was für ein Albtraum! Sie gehörte zu den Langschläferinnen! Durfte sich zu jener gesegneten Spezies der Langschläferinnen zählen, die kein Kanonendonner aus den Verschlingungen ihrer buntgemalten Vormittagsträumereien holte. So war es immer gewesen. Und gerade darum hatte er sich für sie entschieden. «Ist Erstaunlicheres vorstellbar», hatte er ihr beim ersten gemeinsamen Aufwachen ins Ohr geflüstert, «als dass einem Frühaufsteher, wie mir, eine leidenschaftliche Langschläferin vom Schicksal zugeteilt wird?» Seine Worte! Etwas pathetisch, aber wohltuend. «Träum du weiter, ich geh joggen!» So war es dann auf ewig verabredet. So hatten sie es auch immer gehalten. Seit beinahe drei Jahren. Und es waren in diesen drei Jahren immer die schönsten fünf Minuten des Tages gewesen, wenn er vor dem Joggen noch einen Augenblick lang neben ihr auf der Bettkante saß, ihr mit den Fingern über die geschlossenen Augen tupfte, einen Abschiedskuss zu ihr hinunterhauchte und auf Zehenspitzen das Schlafzimmer verließ. Nie hatte sie einen Verdacht geschöpft. Sie war Langschläferin, er Frühaufsteher. Vom Schicksal verleimt, passten sie perfekt zueinander. Und dann das! Der Zettel! Gestern!

Wieder sah Carolin zum Fenster hinaus. Der Himmel in Springfelde färbte sich allmählich mittagsblau. Ein Motorrad knatterte um die Straßenecke. Die Nachbarschaft hatte den Rasenmäher angeworfen. Carolin lächelte gequält. Das war sie: ihre überschaubare Welt. Von der sie sich nun verabschieden wollte. Wollte sie es denn? Oder war es nur eine Laune, die vorüberflog? Sie drehte den Kopf – das Küchenradio sendete scheppernd eine Warnmeldung zu ihr herüber: Im Schwimmbad von Springfelde sei der Zehnmeterturm wegen Baufälligkeit für den Publikumsverkehr bis auf Weiteres gesperrt, und man werde unverzüglich das Wasser im Becken ablassen. 

Gestern hatte sie einen Zettel im Briefkasten gefunden. Einen Zettel mit seiner Handschrift. Er teilte ihr mit, er habe seit einiger Zeit eine Joggingpartnerin. Deren Frühaufstehercharme sei er auf Anhieb erlegen. Er könne nichts dafür. Schicksal! Sie müsse sich fortan also ohne ihn durchs Leben träumen. Ende. Kein Wort weiter. – Den Zettel hatte Carolin sofort zerrissen. Hatte die Schnipsel dann sofort wieder aus dem Müll gefischt. Hatte sie zusammengesetzt und mit Spucke auf die Tageszeitung geklebt, die sie, von ihm zurechtgelegt, auf dem Sekretär gefunden hatte. Dann hatte sie versucht, ihn anzurufen. Die Nummer war nicht mehr vergeben.

«Ich bin eine Frau von 47 Jahren», schrieb Carolin. War das ein Anfang? «Ich bin aus gutem Hause (mein Vater war Steuerberater und hat mir ein kleines Vermögen hinterlassen), ich habe ein Psychologiestudium abgebrochen, ich war noch nicht verheiratet, man sagt mir einen Hang zur Überspanntheit nach, aber, na ja, trifft das denn zu? Ich denke, alles in allem ist an mir so ziemlich alles ganz normal. Ich frage mich natürlich: Wer wird mich vermissen? Ist da überhaupt jemand? Wo wird man mich finden? Warum hat er mir das angetan? Weil ich auf einer Heirat mit Ehevertrag bestanden habe? Außer seiner hinreißenden Persönlichkeit hat er ja kaum etwas, das Geld habe ich. Aber es war doch Liebe, oder? Ich habe an seine Liebe geglaubt. Sie hat meine Schritte beschleunigt. Sie hat mir Gerüche zugespielt, die ich nicht kannte. Sie hat meine ausufernden Träume handfester werden lassen. Und auf einmal soll es das alles nicht mehr geben? Mein Leben soll keinen Sinn mehr haben? Auf einmal?» Carolin japste nervös nach Luft. Ein Schuss Selbstmitleid hatte Tränen in ihr hochkommen lassen. Und in Gedanken rauschten die vergangenen drei Jahre an ihr vorüber, in denen sie gelernt hatte, glücklich zu sein. Vor der Zeit mit ihm waren immer nur Männer in verrauchten Coctailbars auf sie zugesteuert, bei denen eine Nacht zu holen war, aber kein Glück. Und was würde künftig auf sie zusteuern? 


Paul Ufer saß vor seinem Laptop. Seit dem Aufwachen brütete er über einem Abschiedsbrief. Einen Anfang hatte er gefunden. «Es hat nicht gereicht.» zeigte der Laptop an. «Es hat nicht gereicht», sagte Paul leise zu sich selbst. Mit 51 Jahren würde er sich heute aus dem Leben abmelden als ein Talent, das mit 15 erste Erfolge als Geburtstagsdichter in der Lokalpresse feierte, das sich, zügellos Einfälle ausdampfend, als Mittzwanziger an einem Roman versuchte, den es dann nie gegeben hat, ein Talent, das in der Gewissheit älter wurde: Du gehörst zu den Großen, Paul, Literaturnobelpreis, warum denn auch nicht, dein Verleger meldet die erste Millionenauflage, in der Wikipedia wird man dich später einmal nur mit steil abwärtsfahrendem Scrollbalken ganz erfassen können, du wirst … du wirst, so viel Überheblichkeit sei erlaubt … dichtend wirst du der Unsterblichkeit entgegeneilen. «Oh, mein Gott!» Ein Stoßseufzer. Paul Ufer lachte lautlos. Sein ganzes Leben hatte er mit Illusionen vertrottelt! Hatte nicht erkennen können, wie bescheiden er mit Talenten ausgestattet war. Hatte den Größenwahn in sich selbst zwar immer wahrgenommen, ihn aber als angemessen immer auch geduldet. Zur Schauspielschule war er gegangen, hatte sich Kabarettprogramme geschrieben, hatte Kneipentheater gespielt, in der Rilke-Nachfolge Naturlyrik im Selbstverlag veröffentlicht. Er, der Hansdampf im Literaturbetrieb, wie er sich selbst in einem frühen Memoiren-Versuch charakterisiert hatte. Und auf einmal – an einem kalten Montag im April – hieß es dann: Ende der Vorstellung! Die große Leere tat sich plötzlich vor ihm auf. Schreibblockade! Wie bei Hemingway, redete er sich ein. Schreibblockade, aber das gibt sich! Hat sich bei Hemingway auch gegeben, oder? … Und am Abend dieses kalten Apriltages dann, nach zwei Flaschen Rotwein und allmählichem Bewusstseinsverlust, sah Paul Ufer in einem kurzen Aufscheinen letzter Gedankenklarheit nur noch diese eine Lösung, die schon Hemingway für sich gesehen hatte, und die auch in der Causa Paul Ufer nun als unabwendbar anzusehen war. Immerhin: Er würde sich nicht erschießen, so viel Blut musste nicht sein, der Blaue Eisenhut war ja auch eine Möglichkeit.

Der Kaffeeautomat hatte sich mit verröchelndem Zischen gerade selbst abgestellt. Ein letzter Schluck Kaffee? Paul Ufer schüttelte den Kopf. Ihm fiel jener chinesische Gangsterboss ein, der vor seiner Hinrichtung noch eine Zigarette rauchen wollte. Keinen Kaffee mehr! Eigentlich hätte er jetzt zum Dienst aufbrechen sollen. Beim Stadtfernsehen hatte er einen Job angenommen: als Übersetzer der laufenden Nachrichten in die Gebärdensprache. Hatte sich in das Bewegungsspiel der Taubstummen mühelos einarbeiten können, denn – wie lange war das her? – der Pantomimeunterricht auf der Schauspielschule erwies sich da als brauchbare Vorbereitung. Aber dieser Fernseh-Job … bei seinen Talenten, verdammtnochmal! Was für ein Abstieg! «Es hat nicht gereicht!» Paul Ufer sah sich mit 51 Jahren ganz unsentimental als eine grandios gescheiterte Existenz an. Eine Null, für die sich kein Mensch mehr interessierte. An die sich niemand erinnern würde. Er lachte wieder. Konnte sich nicht einmal hassen für all seine Blindheit. Er war – ja! – er war sich auf einmal selbst herzlich gleichgültig geworden. «Also dann, Paul, den Abschiedsbrief kannst du dir schenken, kein Mensch wird ihn lesen wollen. Mach dir einen letzten schönen Spätsommernachmittag, geh ins Schwimmbad – und dann Hemingway!» 


Das Schwimmbad von Springfelde war überfüllt. Paul Ufer hockte auf seiner Decke und kniff die Augen zusammen. Durch die Augenschlitze betrachtet wurden all die dicken Leiber rundum zu lauter dicken Würmern. Ein Ball flog auf ihn zu, ein Kind kreischte, eine Mutter lamentierte, Paul erhob sich und kickte den Ball in die Menge, unabsichtlich, eine Mutter fauchte ihn an, ein Kind weinte herzzerreißend, ein Bademeister machte sich auf seinem Hochsitz lang, eine Frau fragte: «Wäre hier noch Platz?»

Paul Ufer sah sich irritiert um. Dann setzte er sich wieder und murmelte: «Wäre!» – «Was meinen Sie damit? Kann ich meine Decke hier aufschlagen, oder … hier ist doch noch Platz, oder?» – «Schlagen Sie auf, Verehrteste, was Sie wollen, aber kommen Sie mir nicht zu nahe!» – «Komm ich nicht, Verehrtester, keine Sorge, Ihre Haut ist mir nämlich zu käsig!» Carolin Honig schlug ihre Decke auf, setzte sich und dachte: Blöder Kerl, aber was schert mich das noch. 


Der Nachmittag zog über die Köpfe der Leute hinweg wie ein lärmender Film. So empfand es Carolin. Sie lag auf ihrer Decke und starrte in den Himmel. 

Paul hätte der Frau, die sich da neben ihn hingepflanzt hatte, am liebsten einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen. Immer wieder stieg dieser Wunsch in ihm auf. Er war wütend. Auf sich selbst. Auf die Frau. Auf das Leben. 

Carolin winkte einen Eisverkäufer heran. «Himbeer und Zitrone, bitte! Sie auch?» In einem Anflug von Galgenhumor bot sie es dem blöden Kerl auf der Decke neben ihr an. Der rollte sich wortlos auf den Bauch.

Von irgendwoher kam Musik herangeträllert. Banjo, Klarinette und Waschbrett. Eine Drei-Mann-Combo. Das Banjo sang: «Das Schwimmbad ist mein Eigenheim, ich bin ein Wassertier, und wirfst du deine Angel aus, dann beiß ich an bei dir.» Die Klarinette kassierte dann die Leute ab. Carolin warf einen Zehn-Euro-Schein in den hingehaltenen  Hut. Und bekam dankend eine Zugabe: «Das Leben ist voll Sonnenschein, und du stehst mittendrin, und wär ich nicht ein armes Schwein, und wär ich mal mit dir allein, ich nähm dich her und hin.» Carolin wollte das nicht hören, denn dem blöden Kerl neben ihr hatte es offenbar gefallen. Der lag auf dem Bauch und gluckste. Mit einem Fingerwisch scheuchte Carolin die Combo weiter. 

Ein Hund schnüffelte sich zwischen den Liegedecken hindurch. – «Herrchen ist hier, Aurora!»

Ein Kind hielt eine Schnecke hoch und fürchtete sich vor ihr.

Eine Sirene plärrte plötzlich los. 

Leute kreischten. 

Leute liefen zusammen und rannten zum Zehnmeter-Sprungturm. 

Dort oben stand eine junge Frau. 

Bis zur Spitze hatte sie sich vorgewagt. Sie würde springen, keine Frage. 

Den Leuten stockte der Atem. Wie war sie da hinaufgelangt? Einige hielten ihre Handys hoch und fieberten dem Sprung entgegen. 

Der Bademeister meldete sich über Megaphon. Forderte die junge Frau auf, vom Sprungturm herunterzukommen. Es sei kein Wasser im Becken! Sie schwebe in Lebensgefahr! Sie reagierte nicht. Stand am freien Ende und sah geradeaus – und «Springt sie jetzt, oder was?» rief ein dünner Mensch. 

Plötzlich dreht sich die junge Frau den Leuten zu. Guckt nach unten. Guckt lange. Fuchtelt dann mit den Händen. Kurze schnelle Bewegungen. Droht abzustürzen. Der Bademeister meldet sich wieder über Megaphon, versucht zu beruhigen. Die junge Frau antwortet mit Händen und Armen. 

Paul ist aufgesprungen. Drängt sich durch die Leute. Wird aufgehalten. Ein Dicker keift ihn an: «Die guten Plätze sind belegt, Alter!» Paul tritt ihm auf den Fuß. Schlägt sich weiter durch die Menge. 

Ein Familienvater stellt sich ihm mit Kind und Badekappenmutti in den Weg. Paul brüllt: «Sie ist taubstumm, sieht das denn niemand!» Man macht ihm Platz. 

Carolin ist Paul hinterhergelaufen. Steht jetzt keuchend neben ihm. Fragt: «Taubstumm? Woher wissen Sie das?»

«Ich verstehe, was sie sagt!»

«Was sagt sie?»

«Sehn Sie hoch! Sie sagt: ‹Ich habe Angst vor dem Leben!›» 

Paul antwortet der jungen Frau auf dem Sprungturm mit schnellen Handzeichen. 

«Was haben Sie ihr gesagt?» will Carolin wissen.

»Na, was schon! Das Leben ist schön, hab ich behauptet!»

«Und?»

«Sie glaubt mir nicht!»

«Aber es ist doch wunderschön!»

«Haben Sie eine Ahnung!»

Ein ausrangierter Feuerwehrwagen, den man aus einem nahegelegenen Schuppen herausgerollt hat, bahnte sich den Weg über die überfüllte Schwimmbadwiese. Die Leute gingen widerwillig auseinander. Der Bademeister drohte über Megaphon mit Anzeige, falls die Behinderung nicht aufhöre. 

Die Feuerwehrleiter wurde ausgefahren. Auf dem Weg zum Beckenrand. Dann musste der Wagen anhalten. In einigen Metern Entfernung. Es war unmöglich, die Leiter bis zu der Frau hochzudrehen: Um das leergepumpte Becken herum stapelten sich Liegestühle, Planen und Bretter. Ein Bauzaun war wie ein Schutzwall um das Gelände gezogen. Mit der Leiter kam man nicht nahe genug heran.

«Sagen Sie ihr», bat Carolin, «sagen Sie ihr, das Leben habe für sie doch gerade erst angefangen, es sei voller Überraschungen!»

«Hab ich, Verehrteste. Aber sie glaubt mir einfach nicht!» entgegnete Paul. «Sie bezweifelt, dass ich etwas von ihrem Leben verstehen könnte!»

«Warum klettert denn, verfluchtnochmal, niemand da hinauf!» wurde gerufen. «Ich bin der Chefredakteur der Springfeldpost! Man muss doch etwas tun!» 

Paul wandte sich der jungen Frau zu. Sah zu ihr hoch.

«Was macht sie denn jetzt?» Der Chefredakteur hatte sich auf Zehenspitzen hochgeschraubt, als könne er so genauer erkennen, was sich da oben abspielte. 

Die junge Frau hielt sich die Augen zu. Schwankte auf dem schmalen Untergrund. Versuchte einen Schritt nach vorn. Ließ die Hände wieder fallen.

Die Menge unter ihr verstummte. Man starrte auf Paul. 

Paul brüllte die Leute an: «Hat jemand unter euch eine Idee? Was ich ihr sagen soll? Wie man sie aufhalten kann? Sie wird springen!»

Ein Sonnenbebrillter meinte: «Ihr Schicksal liegt in Gottes Hand, würde ich sagen.»

«Quatsch!» widersprach Paul. «Von uns will sie etwas hören!»

Ein Aufschrei: Die junge Frau schwankte auf einmal heftig und drohte abzustürzen.

Carolin sagte leise: «Was sie da vor hat, das ist doch keine Lösung! Sagen Sie ihr das, bitte! Es ist keine Lösung!»

Paul blickte nach oben. Versuchte ein Gespräch mit der Frau anzufangen. Redete behutsam auf sie ein. Mit den Händen. Mit den Armen. Sogar der Kopf verwickelte sich in das Gespräch. 

Die Leute waren zu kleinen Gruppen zusammengerückt. Starrten auf Paul. Ein älterer Herr informierte die Umstehenden: «Den kennt man doch, der ist von den Nachrichten. Fernsehen!» 

Und dann hatte Paul eine Idee. Eine ganz und gar blödsinnige Idee, wie er fand, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Und als er nach endlosen Minuten – die Leute hatten ihn alle im Blick, hatten sich an ihm fragend festgeguckt, versuchten zu enträtseln, was er der jungen Frau zu sagen hatte – als er irgendwann erschöpft die Arme sinken ließ, weiter unverwandt nach oben schaute … da drehte sich die junge Frau langsam und unsicher, beinahe stolpernd auf dem Sprungturm um, ging mit zögernden Schritten zur Treppe zurück … und war hinter dem Bretterverschlag verschwunden, der um den Treppenaufgang gezogen war. 

Die Leute redeten laut und aufgeregt, wie nach einem Fußballspiel. Einige klatschten. Der Chefredakteur der Springfeldpost war fluchend in der Menge untergetaucht, weil er vergessen hatte, den Akku in seinem Handy aufzuladen. «Kein Bild!», hörte man ihn jammern, «eine Katastrophe!»

Paul lief der Schweiß übers Gesicht. Er atmete heftig. Die Beine zitterten ihm. Er ließ sich auf seine Decke fallen. 

Nach einer Weile setzte sich Carolin neben ihn. Sie wartete einen Augenblick. Dann fragte sie: «Was haben Sie zu ihr gesagt?»

«Ich? Gar nichts. Rilke hat!»

«Wer ist Rilke?»

«Einer, der wunderbare Gedichte schreibt. Fand die junge Frau da oben übrigens auch.»

«Sie haben …?»

«Ich habe ihr ein Gedicht von ihm hochgeschickt, weil mir selbst nichts Glaubhaftes mehr einfiel. Ein Gedicht, das vom Leben erzählt, vom Jungsein und vom Tod, vom Schwimmbad, von der letzten Einsamkeit und dem langen Schweigen am Ende aller Wünsche.»

«Ein … Gedicht? Das glauben Sie doch selber nicht! Was für ein Gedicht?»

«Ein großes. Eins von der Sorte: erst mal unverständlich, aber schön.»

«Und sie hat es trotzdem verstanden … oder … was?»

«Keine Ahnung.» 

«Sie machen sich lustig über mich!»

«Die großen Gedichte muss man nicht verstehen, Verehrteste. Es sind magische Wörter, aus denen sie zusammengesetzt sind. Und diese Magie – die kann so eine junge Frau da oben auf dem Sprungturm schon mal erschrecken und, Sie haben es ja gesehen, sogar zur Umkehr bewegen!»

«Kann ich es hören?»

«Sie mögen Gedichte?»

«Ich weiß es nicht.»

Paul sprach leise und ruhig:


«Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge 

Und keine Heimat haben in der Zeit. 

Und das sind Wünsche: leise Dialoge 

Täglicher Stunden mit der Ewigkeit. 


Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern 

Die einsamste von allen Stunden steigt, 

Die, anders lächelnd als die andern Schwestern, 

Dem Ewigen entgegenschweigt.» 


Carolin – sie wischte sich über die Augen – lächelte den blöden Kerl, den sie da neben sich auf seiner Decke hocken hatte, lange an. Lange. Dann erkundigte sie sich: «Sind Sie Frühaufsteher?»

«Nein, Langschläfer, warum fragen Sie?»


 

Ich-Betrachtung


– Ein frühlingswarmer Freitagabend kündigt sich an. Motten flattern gegen Schaufensterscheiben, Liebespaare bummeln, Autofahrer hupen. Der Bürgermeister von Himmelsrode hat sich mit Thekla Schmidt-Töff, der Kulturamtsleiterin der Stadt, in ein Hinterzimmer zurückgezogen. Dort feilen sie gemeinsam an der Rede zur Eröffnung der Ausstellung Ichbetrachtung.

Mit Anbruch der Dämmerung macht sich Serafine Moll auf den Weg zur städtischen Kunstgalerie.


Die Himmelsroder Rundschau hatte auf der Titelseite ihrer Freitagsausgabe einen Bericht über die Künstlerin Bibi de Boo veröffentlicht. Darin war die Rede von De Boos überregionaler Bedeutung, man sah sie in der Nähe großer Namen der Moderne, freilich verwies man auch auf irritierende Eigenwilligkeiten: So habe De Boo es der Presse verwehrt, vor Eröffnung der aktuellen Ausstellung einen Blick auf ihre Arbeiten zu werfen. Man könne den Lesern also keinen Hinweis darauf geben, was da zu erwarten sei. So viel aber doch: Wie bei einer Vernissage üblich, rechne man auch heute mit einer geradezu exzentrisch gekleideten Besucherschaft, denn das sei Himmelsroder Tradition und werde mittlerweile sogar von Berlin kopiert.

All das hatte Serafine bei ihrer Morgenlektüre im Büro begierig aufgenommen, ja, es versetzte sie in eine geradezu rauschhafte Aufregung. Und sie fasste einen Entschluss: Am Vorbild lernen! – das sollte von nun an ihr Leitspruch sein. So schrieb sie es nach Feierabend dann auch mit dem neu gekauften Lippenstift auf den Garderobenspiegel im Flur: Am Vorbild lernen, wo immer sich Gelegenheit bietet! Sie würde zu Bibis Ausstellung gehen! Würde einen Blick werfen in die schillernde Welt der schönen Künste, der sie sich bisher verweigert hatte! Kunst – das war für Serafine etwas Fremdes, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Etwas für Leute, die bemerkt wurden. Sie, die namenlose Buchhalterin, sah allenfalls in ihrem Säulenkaktus einen Hauch von schillernder Schönheit aufscheinen, wenn er sie in der Morgensonne anblitzte. Aber Kunst? Über ihrem Wohnzimmersofa hing ein Bild – Türkisvase mit Mohn – von einem Franzosen, Odilon Redon, eine Wiesenblumenstimmung, die Serafine in einem Anflug von Wehmut bei einem Kunstblattversand gekauft hatte, weil der Name des Malers Erinnerungen weckte an ihren Jugendfreund Odin, Kosename Odinle, der nach einer kurzen Affäre mit ihr vom Nesselfieber befallen wurde und zur Regeneration der Haut bei Freya, einer Apothekerin, ein neues Glück zu suchen begann. Die Türkisvase füllte seither die Tapetenleere über dem Sofa aus, und so war sie ihrer Bestimmung zugeführt. An Kunst hatte Serafine dabei nicht gedacht.


Von der städtischen Galerie herüber kamen Serafine die rollenden Bässe eines Boogie-Woogie-Pianos entgegengewummert. Sie hielt sich für einen Moment die Ohren zu. Entschied dann aber, das Gewummer als Kunst einzuordnen und nahm die Hände herunter. Irgendwann verlor sich der Lärm in den Geräuschen des Abends.

Ein paar Schritte vom Galerieeingang entfernt blieb Serafine hinter einer Plakatsäule stehen: Sie wollte nicht gesehen werden. Nicht auffallen. Wollte warten.

Die ersten Besucher zeigten sich.

«Ob die Künstlerin schon da ist?» fragte im Vorbeigehen ein Kahlkopf eine Blauhaarige.

Einige Besucher kamen gekleidet wie für einen Kostümball, so empfand es Serafine. Ein langer Dünner trabte an ihr vorbei in einer goldschwarz karierten Schottenkluft. Ein Damenduo – Serafine guckte zweimal hin – präsentierte sich nackt in noppenbespickte Klarsichtfolie eingeschlagen. Und Serafine fragte sich, ob sie in ihrem schlichten Trenchcoat unter all dem Extravaganten womöglich erst recht auffallen könnte.

Endlich dann, im chromfunkelnden Oldtimer mit offenem Verdeck, fand sich auch Bibi de Boo ein. In Begleitung eines Braungebrannten. Der, so schien es, nicht aussteigen wollte und von Bibi am Ohrläppchen vom Beifahrersitz gezogen wurde.

Serafine war überwältigt von Bibis Auftritt: Sie trug ein krokodilgrün geschupptes Lederkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, und sie ging barfuß. Der Braungebrannte – wie war das einzuschätzen? – der kam als eine Art Kino-Indianer: Feder am Hinterkopf, wehendes Hemd, rotlederne Schnürsandalen bis zu den Knien hoch. Serafine ertappte sich bei einem Grinsen.

Der Abendwind fächelte einen kurzen Wortwechsel zu ihr herüber.

«Zügig, Winnetou! Wir sollten die Leute nicht warten lassen!»

«Verdammtnochmal, ich will nicht!»

«Was willst du nicht?»

«Wie seh ich denn aus!»

«Zum Anknabbern!»

«Du machst mich zum Clown, warum?»

«Winnetou, mein Häuptling, du tust, was ich dir sage, du möchtest doch, dass ich dich am Leben lasse, oder? Also wirst du gehorchen!»

«Was … was machen wir überhaupt da drin? Irgendwas mit Kunst?»

«Ich mache! Du spielst Kundschaft!»

«Bodyguard kann ich besser!»

«Ist vergeben! Los, komm!»

Der Braungebrannte spuckte einen Kaugummi aus. Dann schloss sich hinter ihnen die Eingangstür zur Galerie.


Wenige Augenblicke später ließ sich Serafine mit dem Strom der Leute in den Ausstellungsraum treiben.

Hinter der Eingangstür hatte sich der Braungebrannte postiert. Guckte einer vorbeidrängenden Tattooschönheit auf die einladend angehobenen Brüste.

Der Ausstellungsraum war in flirrendes Licht getaucht. Man begrüßte sich. Schlenderte. Griff zu den Sektkelchen, die von lautlos schwebenden Wesen gereicht wurden. Man trug Kennerschaft auf der Stirn.

Rundum waren Staffeleien aufgestellt. Mit pinkfarbenen Tüchern zugehängte Staffeleien. Serafine dachte an die Zeitungsmeldung: Bibi liebte offenbar die Geheimnistuerei, wie aufregend! Hier und da wurde versucht, einen Blick hinter eines der Tücher zu werfen, doch sofort stoppte dann eine automatisch abspulende Stimme das Vorhaben: «Finger weg!» mahnte die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Das löste bei Ertappten und Umstehenden nervöse Heiterkeit aus.

Jemand klopfte an ein Glas.

Serafine suchte in der Menge Bibi – wo war sie?

«Ruhe!» wurde gerufen.

«Ich als Bürgermeister unserer schönen Stadt», begann ein schwitzender Dicker eine Rede, «ich begrüße Sie herzlich, und ich darf annehmen, meine Damen und Herren, liebe Kunstbegeisterte – wie ich sehe, haben Sie sich, ihrer Kreativität folgend, einfallsreich in Schale geworfen – ich darf annehmen, Sie hoffen, wie ich, auf einen Abend der Einmaligkeit!» Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab und senkte die Stimme: «Vielleicht auch auf einen Abend des Erschreckens, denn bei Frau de Boo weiß man ja nie!» Gelächter. Beifall. «Wir alle ahnen es doch, nicht wahr, meine Damen und Herren, was da auf uns zukommen wird. Nämlich: das Unerwartete. Vielleicht sogar: das Unerklärliche. Wenn ich mich im Saal umschaue, sehe ich allerdings noch nichts davon. Die Kunst gibt sich noch verhüllt. Frau Schmidt-Töff – ah, da hinten steht sie und winkt! – unsere Kulturamtsleiterin! Sie hat mich vor ein paar Minuten noch daran erinnert, und ich gebe ihre Worte jetzt gerne weiter an Sie, meine Damen und Herren: Das Geheimnis der Kunst ist das Geheimnis! In diesem Sinne rufe ich Ihnen zu: Die Ausstellung ist eröffnet!»

Händeklatschen. Von irgendwoher machte das Boogie-Woogie-Piano wieder auf sich aufmerksam, der Pianist sang: Kill me charming snake.


Serafine hielt den Atem an: Bibi kam! Vom Bässerollen des Pianos untermalt, schritt sie in die Mitte des Ausstellungsraumes. Langsam. Lächelnd. Sie glitt an den Besuchern vorbei wie … Serafine suchte nach einem Vergleich … ihre Vorliebe für mythologische Frauengestalten spielte ihr das Wort Schicksalsgöttin zu. Ja! Bibis Auftritt hatte etwas schicksalhaft Beschwörendes! Vielleicht sogar Bedrohendes! Serafine schloss die Augen. Und riss sie sofort wieder auf, als könne sie sich so das atemberaubende Bild neu vor Augen holen.

Das Piano war verstummt. Bibi war stehengeblieben. Blickte in die Runde. «Ich bin Künstlerin! Alles, was ich mache, ist Kunst!» sagte sie lächelnd. «Alles, was ihr heute machen werdet, wird Kunst sein!» setzte sie hinzu.

Man quittierte Bibis Worte mit: «Ah!» Ein Piercinggesicht variierte mit: «Geil!» Und dann, einer einladenden Geste Bibi de Boos folgend, setzte man sich in Bewegung. Murmelnd. Erwartungsvoll. Verteilte sich vor den zugehängten Staffeleien.

Serafine ließ sich vom Sog der Neugierigen mitnehmen. Steuerte eine Staffelei an und fand eine Lücke zwischen der Blauhaarigen und dem Kahlkopf, an die sie sich erinnerte. Die Blauhaarige erklärte dem Kahlkopf gerade, zudringlich flüsternd, das Wort: Individualspaltung. Dann, mit einem «Aha!», verstummte sie. Serafine sah, wie die Tücher sich lautlos von den Staffeleien lösten und zu Boden glitten.

Die Besucher vor den Staffeleien guckten.

Guckten verblüfft.

Guckten gebannt.

Alle standen sich selbst gegenüber.

Guckten sich an und wurden angeguckt.

Sahen sich widergespiegelt in Bibi de Boos Bildern.

Widergespiegelt?

Waren es Bilder?

Serafine bemerkte, dass ihrem Spiegelbild der Mund offen stand. Der Kahlkopf neben ihr leckte sich die Lippen. Unwillkürlich tat sie es ihm nach, leckte sich die Lippen. Aber sie sah es dann nicht. Der Mund stand ihr offen. Immer noch. Sie suchte nach einer Erklärung. Nur der erste Augenblick war festgehalten … war es so? Nur der Augenblick, als sie den Mund öffnete, der war zum Bild geworden … das sich nun aber … es veränderte sich! Zeitlupenlangsam flossen die Farben in dem Bild auseinander, die Konturen brachen auf und verzogen sich … Serafine sah, wie ihr Gesicht und ganz langsam der Bauch … wie sie selbst sich verwandelte, wie aus ihrem Gegenüber … aber was bedeutete das? … sie sah, wie ein grau ausfransender Spuk daraus wurde, so kam es ihr vor. Der Kahlkopf neben ihr verzog sich langsam zu einer matschenden Klecksgestalt. Andere, die in dem Bild um sie herumstanden, lösten sich in Strichfiguren auf.

Jemand klatschte. «Bravo!»

Jemand zischte: «Unverschämtheit!»

Jemand murmelte: «Kunst verdattert!»

Serafine starrte auf ihr zerfließendes Bild.

Die Blauhaarige wandte sich an die Umstehenden: «Sie kennen mich, Herrschaften, Lilian Lösel, Kulturseite, Himmelsroder Rundschau, nicht wahr, da eröffnet sich uns doch eine Menge Interpretationsspielraum! Bibi de Boo hat den Betrachter, hat uns alle, ich glaube, so darf man es vermuten, eingesperrt in diesen Bildern, auf dass wir in der Begegnung mit uns selbst lernen, uns zu sehen …!

«Macht sich über uns lustig, die Frau Künstlerin, oder?» kam als Zwischenruf.

«Technischer Firlefanz!» wurde gerufen.

Die Zwischenrufe schaukelten sich gegenseitig hoch.

«Wenn Sie uns fragen», ließ sich das klarsichtfolienverpackte Damenduo vernehmen, «Kunst ist immer auch ein Schlag ins Kontor, wie man hier sieht!»

«Genau! Man fühlt sich irgendwie am Arsch!» bestätigte das Piercinggesicht kichernd.

«Ich fühle mich wohltuend vereinnahmt!» merkte eine Dame mit Tellerhut an.

«Kunst verwandelt!» erklärte die Kulturredakteurin der Rundschau.

«Ach, Sie mit Ihrem Gequake!»

«Für Ihre Ahnungslosigkeit bin ich nicht verantwortlich!» konterte die Kulturredakteurin.

«Ich jedenfalls mache hiermit meine Rechte geltend!» brüllte über die Köpfe der Besucher hinweg unvermittelt laut und herausfordernd der Braungebrannte. «Nämlich: Ich bin Teil dieses Bildes hier, wie man noch deutlich sieht, also ist das Bild auch ein Teil von mir! Jemand Interesse? Mein Teil steht zum Verkauf! Mindestgebot 10.000 Euro!»

Der Einfall fand Nachahmer. «Mein Teil zum Sparpreis!» bot der Schottenrock an. Weitere Teile wurden ausgerufen. Die Tattooschönheit empfahl sich im Sonderangebot, Ratenzahlung inklusive. Weitere Geschäfte wurden angezettelt. Stimmengewirr. Händeklatschen. Pfiffe. Gelächter. Chaos.

«Hier geht es ja zu wie im Tollhaus!» Der Bürgermeister bat um Ruhe. «Hören Sie mir doch zu!» Er schwitzte enorm. «Frau Schmidt-Töff hat mir gerade nahegelegt, meine Damen und Herren, darauf hinzuweisen: Wir alle … nicht wahr, wir alle sind heute Teil eines Gesamtkunstwerks geworden, das es so noch nicht gegeben hat!»

Jemand rief: «Kleinholz!»

Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab. «Das es zu bewahren gilt!» fügte er an. «Das wir als unzerstörbares Ganzes in den Kulturbesitz der Stadt überführen wollen …»

Protestrufe.

«Ich unterstütze den städtischen Kulturbesitz!» ereiferte sich die Dame mit dem Tellerhut. Und setzte hinzu: «Bibi hat uns in einem Akt künstlerischen Wollens heute alle miteinander unsterblich gemacht, so muss man es doch interpretieren, nicht wahr?»

Der Bürgermeister nickte dem Tellerhut dankbar zu. Neue Gebote wurden ausgerufen. Der Braungebrannte erhöhte seinen Preis auf 20.000 Euro.

Wo war Bibi? Serafine kam sich plötzlich allein gelassen vor. Das Gewühl, der Tumult in der Galerie, alles engte sie jetzt ein. Machte sie hilflos. Sie entdeckte einen Stuhl. Dorthin kämpfte sie sich durch. Setzte sich. Versuchte zu Atem zu kommen. Wo war Bibi? Sie wollte in Bibis Gesicht sehen. Wollte ihr vom Gesicht ablesen, wie das Geschehen um sie herum zu begreifen war. Und da hämmerte wieder das Boogie-Woogie-Piano von irgendwoher auf sie ein. Serafine stand zitternd auf. Sah sich um. Hielt sich die Ohren zu. Raus … raus aus der Galerie! Beim Hinauslaufen hörte sie, wie der Braungebrannte auf 60.000 Euro erhöhte … und Bibi! Auf einmal sah sie Bibis Gesicht im Glas der Eingangstür gespiegelt … Bibi lächelte … es war ein böses Lächeln … Serafine spürte, wie etwas von diesem Lächeln auf sie überschwappte … das ihr unheimlich war … dem sie sich mit Wonne hingab …


Am nächsten Morgen – Serafine war mit stechenden Kopfschmerzen aufgewacht – las sie in einer Sonderausgabe der Himmelsroder Rundschau, die man ihr vor die Haustür gelegt hatte, folgende Meldung: Die Ausstellung Ichbetrachtung der bekannten Künstlerin Bibi de Boo, die am gestrigen Abend mit der Vernissage spektakulär eröffnet worden ist, musste noch am gleichen Abend für beendet erklärt werden, denn sämtliche Werke der Ausstellung sind unter bisher nicht ganz entschlüsselten Umständen zertrümmert worden. Seitens der Polizeibehörde verlautete, dass von einem als Indianerhäuptling beschriebenen Besucher jener «kreative Vandalismus» ausgegangen sein soll (Zitat: Bibi de Boo, Anmerkung der Redaktion), der das Vernichtungswerk in Gang setzte. Jener Besucher, so heißt es, der für eines der Werke De Boos als Miteigentümer Rechte reklamiert hatte, brachte den Verkauf seines Anteils ins Spiel, um am Ende einer tumultartigen Bieterschlacht eine Millionensumme dafür zu fordern. Er soll schließlich, weil sich offenbar kein Käufer fand, in einem Moment allgemeiner Orientierungslosigkeit das von ihm angesprochene Kunstwerk wortlos und brachial in Trümmer gelegt haben. «Dieser Umstand wird als Initialzündung einer allgemeinen Vernichtungshysterie seitens der Besucherschaft zu werten sein», so wörtlich im Redaktionsgespräch der Verhaltensforscher Hanno Oll, selbst Besucher der Ausstellung. Wie Oll mutmaßt, dürfte das letztlich auch zur akribisch durchgeführten Zerstörung sämtlicher Ausstellungsstücke geführt haben. Wobei Oll den Ruf «Kleinholz!» wiederholt gehört haben will. Nachdem gegen 23 Uhr ein Sonderkommando des städtischen Sperrmülldienstes in der Galerie angerückt war, um mit der Entsorgung der Ausstellungsüberreste zu beginnen, entlud sich die allgemeine Stimmung unter den Besuchern in einer plötzlichen und schnell ausufernden Panik. Der Grund, so der Leiter der örtlichen Polizeibehörde, Andy Waluschke: «Die Leute vom Sperrmüll wollen einsammeln, aber die Künstlerin hält sie auf und erklärt, der herumliegende Müll sei von jetzt an Teil der Zeitgeschichte und müsse darum Stück für Stück als eigenständige Schöpfung angesehen und in Verwahrung genommen werden.» Der bekannte Rechtsanwalt Täumeling gab später folgendes Statement ab: «Es ist, so denke ich, als ein Akt räuberischer Vorteilsnahme zu werten, dass ein Großteil der Kunsttrümmer von den Besuchern aus der Galerie verschleppt wurde.» – «Na, und der Sperrmülldienst», schloss Kommissar Waluschke seinen Bericht, «musste also unverrichteter Dinge abrücken.» Nach Recherche der Frühredaktion unserer Zeitung sollen bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag die ersten Trümmerteile im Internet als Kunstobjekte zu Rekordpreisen angeboten und auch verkauft worden sein.


Serafine ließ die Zeitung sinken. Sie lächelte. Es war Bibis Lächeln. Serafine wusste es, ohne in den Garderobenspiegel blicken zu müssen.